Beschreibung
Die Geschichte und die Wirkung des Holocaust werden nicht nur von Historikern erforscht, sondern unter anderem auch von Literatur und Sprachwissenschaftlern sowie von Film und Fotowissenschaftlern. Stellvertretend für zahlreiche neue Studien stehen die zwölf in diesem Band versammelten Beiträge, die im interdisziplinären Doktorandenkolloquium des Fritz Bauer Instituts diskutiert worden sind. Viele verfolgen einen transnationalen Ansatz und gehen - im Sinne Saul Friedländers - über die Perspektive reiner Opfer bzw. Tätergeschichtsschreibungen hinaus. So gelangen Uneindeutigkeiten, Wechselwirkungen und Gleichzeitigkeiten in den Blick. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
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Autorenportrait
Jörg Osterloh, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main. Katharina Rauschenberger, Dr. phil., ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin und Programmkoordinatorin.
Leseprobe
Einleitung Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger Das vorliegende Jahrbuch gibt einen Einblick in zwölf Promotionsvorhaben, die in den vergangenen Jahren in einem vom Fritz Bauer Institut und der Evangelischen Akademie Frankfurt jährlich gemeinsam ausgerichteten interdisziplinären Doktorandenseminar in Arnoldshain präsentiert wurden. Seit 2009 konnten dort jeweils zehn Doktorandinnen und Doktoranden ihre laufenden Forschungsvorhaben in einem geschlossenen Kreis vorstellen und ausführlich diskutieren. Neben Historikerinnen und Historikern waren regelmäßig Forschende verschiedener Nachbardisziplinen vertreten, da die Holocaustforschung mittlerweile weit über die Geschichtswissenschaft hinaus in zahlreichen Fachrichtungen wie etwa der Literaturwissenschaft, den Film- und Medienwissenschaften, den Erziehungs- und Kulturwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Das Seminar ermöglichte es den Teilnehmenden, sich über theoretische, methodische und darstellerische Fragen, die alle gleichermaßen betreffen, auszutauschen und durch den interdisziplinären Ansatz auch über den Tellerrand der jeweiligen Fragestellung hinauszuschauen. Auf diesem Wege trug die Veranstaltung dazu bei, einer Verinselung der Forschung der Doktorandinnen und Doktoranden entgegenzuwirken, und bot ihnen eine Plattform, auf der Kontakte geknüpft werden konnten. Die bis 2016 in Arnoldshain vorgestellten 77 Dissertationsvorhaben sind vor allem an deutschen und österreichischen Universitäten entstanden. Thematische Schwerpunkte waren unter anderem Forschungen zu den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, Ghettos und anderen Tatorten des Massenmords (17 Projekte), biographische Studien sowohl zu den Tätern als auch zu den Opfern des Holocaust (10), sprach- und literaturwissenschaftliche Analysen (9), film- und fotohistorische Arbeiten (8), Studien zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und des Holocaust in der Bundesrepublik und in der DDR (7) sowie Untersuchungen zu Gedenkstätten und Museen (5). Die von uns für das Jahrbuch 2017 des Fritz Bauer Instituts ausgewählten zwölf Projekte zeigen eindrucksvoll die thematische Bandbreite, die die Forschung zur Geschichte der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und anderer Opfergruppen sowie zur Vorgeschichte und zu den Nachwirkungen der NS-Massenverbrechen heute erreicht hat. Seit Anfang der 1990er Jahre ist das Wissen über die Ursachen, die Organisation und den Ablauf wie auch die Folgen des Genozids an den europäischen Juden erheblich angewachsen. Die Geschichtswissenschaft hat sich seither in einem zuvor nicht gekannten Maße mit der Erforschung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen befasst. Die folgende historiographische Skizze konzentriert sich auf die Entwicklung der Fragestellungen und Prioritäten der Holocaustforschung im deutschsprachigen Raum, weil die im Folgenden vorgestellten Dissertationsprojekte im Kontext dieser Schwerpunkte entwickelt worden sind. Die Entwicklung der Holocaustforschung in Deutschland seit 1990 Das Ende des Kalten Krieges und die Ablösung der staatssozialistischen Regierungen in Mittel- und Osteuropa bedeuteten eine Zäsur auch für die internationale Wissenschaftslandschaft. Nun standen die bisher nur schwer oder gar nicht zugänglichen Archive offen, wodurch die unmittelbaren Tatorte des deutschen Genozids an den europäischen Juden in den Fokus der historischen Forschung gerieten. Hinzu kam, dass bereits 1992 die Existenz deutscher Akten in Russland bekannt wurde. Diese waren nicht, wie man jahrzehntelang angenommen hatte, im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, sondern lagerten als Kriegsbeute im sogenannten Sonderarchiv in Moskau und standen nach dem Ende der Sowjetunion der Forschung zur Verfügung. In den 1990er Jahren liefen zudem die Sperrfristen für die Ermittlungsakten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg nach und nach aus, so dass diese nun ebenfalls wissenschaftlich genutzt werden konnten. An mehreren deutschen Universitäten wurden jetzt Schwerpunkte in der Holocaustforschung gesetzt. Eine nicht zu überschätzende Rolle spielte Wolfgang Scheffler, seit 1986 Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, der bereits seit den frühen 1960er Jahren mit Justizakten arbeitete, die im Zusammenhang mit der Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (sogenannten NSG-Verfahren) angelegt worden waren. Scheffler richtete sein Interesse auf das Tatgeschehen in Mittel- und Osteuropa und betonte die Bedeutung der Akten aus Ermittlungsverfahren gegen NS-Verbrecher. Einen weiteren Akzent setzte das von Norbert Frei zunächst am Institut für Zeitgeschichte in München und später an seinem Bochumer Lehrstuhl geleitete Projekt, welches einen Zusammenhang zwischen den NS-Massenverbrechen in Auschwitz und der Entwicklung des Krieges, der Besatzungspolitik, aber auch der Wirtschaft und Gesellschaft herstellte. An der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg brachte seit 1992 Ulrich Herbert zahlreiche Studien auf den Weg. Er selbst leistete einen wichtigen Beitrag mit einer Monographie über den Organisator des Reichssicherheitshauptamtes, Werner Best. Im Rahmen des Forschungsprojekts "Weltanschauung und Diktatur" entstanden an der Forschungsstelle wegweisende Arbeiten, wie etwa die von Michael Wildt zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Und Götz Aly regte mit seinen zumeist überaus pointiert und durchaus gewollt provokativ vorgetragenen Thesen viele Male zu einem veränderten Nachdenken über die Ursachen und den Verlauf der Judenverfolgung und -vernichtung sowie die Rolle der deutschen Akteure dabei an. In einer neuen Generation junger deutscher Historikerinnen und Historiker verfügten einige zudem über die notwendigen Sprachkenntnisse, um vor allem die Ereignisse in Polen und in den Ländern der früheren Sowjetunion auch mithilfe von Quellen in den jeweiligen Landessprachen analysieren zu können. Ab Mitte der 1990er Jahre lagen erste Dissertationen zur deutschen Besatzungsherrschaft sowie zum Judenmord in Polen und in den besetzten Gebieten der Sowjetunion vor. Paradigmatisch waren insbesondere die Regionalstudien von Dieter Pohl und Thomas Sandkühler zum Distrikt Galizien sowie von Christian Gerlach zu Weißrussland. In diesen und weiteren grundlegenden Untersuchungen zu Osteuropa wurden die nationalsozialistische Judenverfolgung, die Rolle der Besatzungsverwaltung hierbei und die Zusammenhänge des Holocaust mit anderen (Massen-)Verbrechen der deutschen Besatzer und der einheimischen Kollaborateure immer deutlicher herausgearbeitet. Zugleich eröffneten die "neuen" Quellenbestände in Mittel- und Osteuropa auch neue Einblicke in die Verfolgung und Ermordung der Juden im Deutschen Reich sowie in den zwischen 1938 und 1945 annektierten Gebieten. Michael Alberti befasste sich mit dem Reichsgau Wartheland, und Jörg Osterloh untersuchte die nationalsozialistische Judenverfolgung im Sudetenland. Wolf Gruner brachte mit seinen Studien zum Zwangsarbeitseinsatz von Juden und zur dynamisierenden Wirkung kommunaler antijüdischer Maßnahmen auf die staatliche Judenpolitik wichtige Themen in die Diskussion ein, an die zahlreiche weitere Arbeiten anknüpften. Mitte der 1990er Jahre führten die erregte Debatte um die deutschsprachige Ausgabe von Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust und insbesondere die Kritik an seiner Hauptthese, dass der Genozid an den europäischen Juden ein "nationales Projekt" der Deutschen gewesen sei, dazu, dass die Frage "nach Ausmaß und Verbreitung des Judenhasses in der deutschen Bevölkerung und nach der Bedeutung, die ihm für den millionenfachen Mord zukommt", wieder diskutiert und das Wissen der Deutschen um den Genozid thematisiert wurde. Die 1995 in Hamburg eröffnete Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehr...